Sie haben in einer tiefenpsychologischen Studie die Motive für die Nutzung verschiedener Bewegtbildplattformen untersucht – ist Fernsehen nicht gleich Fernsehen, egal wie groß der Bildschirm ist?
Ines Imdahl: Nein, überhaupt nicht. Wenn man genau nachfragt, stellt man fest, dass es ganz unterschiedliche Gründe gibt, warum sich Menschen bestimmte Dinge ansehen – sie haben verschiedene Ausgangslagen und verfolgen individuelle Ziele. Schon das Fernsehen auf dem großen Bildschirm im Wohnzimmer ist von ganz unterschiedlichen Nutzungsverfassungen geprägt.
Welche sind das zum Beispiel?
Imdahl: Das lineare Fernsehen hat sich zum Wegbegleiter entwickelt, der uns in Coronazeiten mehr und mehr die Einsamkeit nimmt. Als Alltagshelfer kann TV den Plausch mit der Nachbarin ersetzen und dafür sorgen, dass einem die Dinge zu Hause leichter von der Hand gehen. Das klassische Fernsehen ist für viele das Fenster zur Realität, während zum Beispiel Netflix eher dazu dient, die Realität zu vergessen.
Danach sehnen sich ja gerade viele.
Imdahl: Viele nutzen Netflix dazu, sich komplett aus der Realität zu verabschieden. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die viel Netflix schauen, von den Nachrichten und von der Welt deutlich weniger mitbekommen. Das ist im Moment natürlich auch oft gewünscht, denn für viele ist die Realität zunehmend schwerer auszuhalten.
Ist Eskapismus nicht auch ohne Corona ein wichtiges Motiv für die Mediennutzung?
Imdahl: Ich bin mit diesem Begriff eher vorsichtig. Es gibt sehr viele verschiedene Formen von Eskapismus. Urlaub ist zum Beispiel auch Eskapismus, allerdings geht es dabei nicht darum, die Realität zu vergessen, sondern darum, sich für die Realität zu erholen. Bei Netflix wollen die Zuseher die Wirklichkeit ausblenden, das hat sich auch schon in früheren Befragungen bestätigt. Aus psychologischer Sicht ist dieses komplette Abtauchen sicher nicht wünschenswert.
Und das Fernsehen gibt mehr Struktur?
Imdahl: Es gibt uns eine Chance, das Leben aufrechtzuerhalten, das im Moment nicht möglich ist. Ob bei Kochformaten, Shoppingsendungen oder der großen Liveshow – man will mit Menschen in Interaktion treten, an deren Erlebnissen teilhaben. Wir leben seit Corona in einer seelischen Fassungslosigkeit. Wir müssen alle täglich den Alltag um uns neu strukturieren, denn das „New Normal“, das von vielen so beschworen wird, gibt es noch nicht. Tatsächlich ist das lineare Fernsehen mit seiner Strukturierung rund um Nachrichtensendungen, das Lokale und die Unterhaltung etwas, das uns Rahmen und Fassung gibt.
Auf dem Smart-TV im Wohnzimmer tummeln sich mittlerweile nicht nur TV-Anbieter, Streamingdienste und Mediatheken, sondern auch YouTube, Spotify und Social-Media-Anwendungen. Sind sie alle Wettbewerber um Entspannung in der Wohlfühloase?
Imdahl: Es hängt nicht von der Bequemlichkeit des Sessels ab, in welcher Verfassung die Mediennutzer sind. Unsere Forschung hat gezeigt, dass Lean-Back, also die klassische Kinoverfassung, bei der man es sich nach getaner Arbeit vor dem Bildschirm gemütlich macht, immer seltener wird. Bei den TV-Zuschauern ist die Alltagsbegleitung die zunehmende Verfassung. Dagegen wird zum Beispiel YouTube eher genutzt, um herauszufinden, wie etwas funktioniert: Was kann ich einkaufen? Was kann ich anziehen? Wie renoviere ich mein Wohnzimmer? Das sind in der Regel kürzere Filme, die sehr stark in die Aktivierung gehen. Das ändert sich nicht, nur weil sie auf dem großen Screen laufen.
Bei den 14- bis 29-Jährigen zeigen sich erste Sättigungseffekte beim Streaming. Dafür geben die 30- bis 49-Jährigen gerade noch einmal richtig Gas. Haben sich die Eltern im Lockdown die Mediennutzung ihrer Kinder angeeignet?
Imdahl: Zum Teil ist das sicher so. Wenn man mehr Zeit zur Verfügung hat, schaut man in verschiedene Richtungen. Man sieht sich vielleicht auch einmal eine komplette Serie an einem Nachmittag bei Netflix an oder man zeigt den Kindern auf Amazon Prime Video die Spielfilmklassiker, die man aus seiner eigenen Kindheit kennt. Viele Eltern haben im Lockdown auch damit angefangen, sich mehr dafür zu interessieren, was ihre Kinder machen. Da schaut man vielleicht auch einmal auf YouTube, was das für ein Teenager ist, der mit Cartier-Uhren um sich wirft oder warum zum Beispiel gerade Twitch für den Nachwuchs so interessant ist. Die Verfassungen der Kinder sind attraktiv und lernbar.
Wie können die TV-Anbieter hier am Ball bleiben?
Imdahl: In die Zukunft blicken, heißt für mich, nicht in Zielgruppen, sondern in Verfassungen zu denken. Die Medien und die Verfassungen, in denen sie genutzt werden, entwickeln sich immer weiter. Auch die Menschen entwickeln sich in neue Verfassungen hinein. Es ist wichtig, diese Verfassungen zu verstehen, sie aufzugreifen und in bestehende und neue Formate zu integrieren.