US-amerikanische Unternehmen haben die Zeichen der Zeit schon länger erkannt. Seit etwa zwei Jahren äußern sich CEOs und CMOs verstärkt zu politischen und gesellschaftlichen Themen – freie Wahlen, Rassismus, LGBTQ, Impfungen. 2021 unterzeichneten mehrere Hundert Konzernlenker, darunter die von Amazon, Google, Netflix, Starbucks und GM, ein gemeinsames Statement gegen geplante Änderungen im US-Wahlrecht. In einer Umfrage von Forrester Research gaben damals 47 Prozent der Amerikaner:innen (51 Prozent der Gen Z) an, dass sie die politischen, ökologischen und sozialen Ansichten der CEOs mit den Unternehmen assoziieren. 43 Prozent bevorzugen Firmen, die Haltung zu diesen Themen zeigen. „Politics are no longer avoidable for brands“, kommentierte Mike Proulx, Marketing Analyst bei Forrester und Autor des Reports in „Forbes“.
„Silence is not an option“ schrieb Marty Swant über den Artikel für das Wirtschaftsmagazin. Schweigen ist keine Option. Wenn die Marke mit am Frühstückstisch sitzt, dann muss sie auch eine Meinung vertreten. Auch in Deutschland wird diskutiert, wie Unternehmen den richtigen Ton treffen können, ohne dabei plump und eigennützig zu wirken. „Haltung zeigen heißt heute, eine Leistung erbringen“, erklärt Colin Fernando, Partner der Managementberatung BrandTrust. Edeka sei für seine Blau-Gelb-Aktion in den ersten Kriegstagen kritisiert worden, weil man „einfach in die Haltungsmarketingkiste der vergangenen Jahre gegriffen hat“. Dabei habe die anschließende Spendenaktion gezeigt, dass sich der Markenkern sehr gut mit Leistung verbinden lässt. „Beliebigkeit und Austauschbarkeit werden schnell entlarvt“, bekräftigt Fernando: „Die Leute erwarten Authentizität.“
Wer heute für Diversity ist, morgen fürs Impfen und übermorgen gegen den Krieg, setze die Glaubwürdigkeit aufs Spiel, sagt Dirk Ziems, Psychologe und Managing Partner beim Marktforschungsinstitut concept m, im Interview. „Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren schon fast inflationär an gesellschaftliche Anliegen drangehängt.“
Andreas Ebeling, Geschäftsführender Gesellschafter der Brandmeyer Markenberatung, sieht darin ein grundsätzliches Missverständnis: „Ursprünglich geht es bei Purpose um die Grundmotivation unternehmerischen Handelns und die Frage: Was treibt uns an?“, erklärt der Markenexperte. „Heute setzen viele Purpose mit Nachhaltigkeit, gesellschaftlichem oder politischem Engagement gleich. Mit der Kernleistung des Unternehmens hat das häufig nichts mehr zu tun.“ Nicht jede Tiefkühlpizza müsse höhere Ziele verfolgen, sagt Ebeling: „Menschen ein tolles Restauranterlebnis für zu Hause zu bieten, ist auch ein Motiv für unternehmerisches Handeln.“
Oft geht es beim Haltungsmarketing auch darum, für Randgruppen und Subkulturen einzustehen und auf Missstände aufmerksam zu machen, die noch nicht alle auf dem Schirm haben. Die aktuelle Situation sei völlig anders, betont Ebeling: „Es gibt in Westeuropa eine breite gesellschaftliche Einigkeit darüber, dass der Angriff auf die Ukraine schrecklich und zu verurteilen ist. Da braucht es keine Bestätigung, dass mein Joghurt oder mein Schokoriegel das genauso sieht.“ Wenn die Haltung nichts mit dem Markenkern zu tun hat, sei „Schweigen die bessere Option“.
In der akademischen Welt wird schon länger über den Sinn des Haltungsmarketings diskutiert. Byron Sharp, Autor von „How Brands Grow“ und derzeit einer der einflussreichsten Marketingprofessoren weltweit, sieht die Suche nach höheren Zielen kritisch. Die breite Adaption von sozialen Positionen führe dazu, dass Marken undifferenziert und austauschbar werden. Purpose könne „das Ende für Marken bedeuten“.
„Ich möchte ausdrücklich davor warnen, als Unternehmen eine Haltung einzunehmen, weil es gerade Mode ist“, bekräftigt Arnd Zschiesche, Professor für Marketing an der Fachhochschule Westküste und Geschäftsführer vom Büro für Markenentwicklung. „Marken sind zu Marken geworden, weil sie eine spezielle Leistung für den Markt bereitstellen.“ Unternehmen könnten jetzt Gutes tun, indem sie helfen, spenden, unterstützen und diese Leistung sprechen lassen. „Machen und nicht reden“ sei das Gebot der Stunde.
Zschiesche berichtet von einem Pharmaunternehmen, das weiter Krebsmedikamente nach Russland liefere, aber die Erlöse seit Kurzem an die Ukraine spende. Statt zu gucken, was der andere tut, solle jeder individuelle Lösungen finden. Als gutes Beispiel für die Verbindung von Markenkern und Hilfsaktion wird immer wieder die Deutsche Bahn genannt, die Flüchtlinge kostenlos reisen lässt, sowie Mobilfunkunternehmen, die gebührenfreie Anrufe in die Ukraine ermöglichen. Bei fritz-kola gehören politische Statements seit Langem zur DNA. Das Hamburger Unternehmen hat dem neuen Ukraine-Magazin „Katapult“ Platz auf seinen Social-Media-Kanälen eingeräumt.