Nach zwei schwierigen Coronajahren erschüttert nun der Ukrainekrieg Menschen und Märkte in Europa. Viele Werbungtreibende fragen sich, ob ihre Markenbotschaften noch angemessen sind. Wie nehmen Sie die Stimmung wahr?
Tom Schwarz: Wir alle befinden uns in einem emotionalen Ausnahmezustand. Wir schwanken zwischen Überleben und Erleben. Wir sehen, wie die Menschen in der Ukraine ums Überleben kämpfen. Die Bilder erreichen uns über Social Media in Echtzeit rund um die Uhr. Der Krieg ist nur einen Klick entfernt und die Verunsicherung der Menschen groß. Auf der anderen Seite steht das Erleben. Wir alle brauchen auch ein Stück Normalität und die können Content und Werbung vermitteln. Von Marken wird in diesem Spannungsfeld eine extrem hohe Sensibilität erwartet.
Während der Coronakrise haben Sie viele situative Werbeangebote entwickelt – man hat sich fürs Abstandhalten bedankt und fürs Zuhausebleiben. Wie können Werbungtreibende jetzt den richtigen Ton treffen?
Schwarz: Ich sehe ganz wesentliche Unterschiede zwischen der Coronakrise und der aktuellen Situation. Bei Corona dachte man, wir bekommen das gemeinsam schon wieder hin. Außerdem hatte die Krise auch etwas Positives. Bei der Digitalisierung zum Beispiel wurde der Fast Forward Button gedrückt. Homeschooling, Homeoffice, hybrides Arbeiten, skypen mit der Oma, plötzlich war alles möglich. Der Krieg hat nichts Positives, er verbreitet nur Angst und Schrecken. Er schafft keine Branding-Momente. Den Krieg in der Werbung zu nutzen, um eine Aussage zu treffen, halte ich für sehr gefährlich.
Haben Sie schon einmal von einer Aktion abgeraten?
Schwarz: Das kommt schon vor. Wir hatten einen Kunden, der Statements auf T-Shirts drucken und die Verkaufserlöse an Opfer des Ukrainekriegs spenden wollte. Da hätten sich sicher einige gefragt, warum nicht gleich das Geld für Produktion und Media gespendet wurde, ohne zuvor eine Haltung zur Schau zu tragen.
Dennoch erwarten viele, dass Unternehmen und Marken jetzt Haltung zeigen.
Schwarz: Das ist richtig. Gefragt sind aber eher die leisen Töne. Die Erwartungen an Unternehmen und Marken verändern sich dramatisch. Die Menschen wollen mehr über die Entstehung der Produkte wissen, über Ressourcen, Lieferketten, Arbeitsbedingungen und Absatzmärkte. Sie erwarten Transparenz, Authentizität und Ehrlichkeit. Marken, die sich schon länger sichtbar engagieren, haben es leichter. Bei share zum Beispiel gehört die Idee, zu konsumieren und dabei Gutes zu tun, zur DNA der Marke.
Nicht jede Marke hat soziale Verantwortung in ihrer DNA.
Schwarz: Es gibt keine einheitliche Lösung. Jede Marke muss sich auf ihre eigenen Werte besinnen. Die Positionierung gelingt nur, wenn sie glaubwürdig ist und auch im Unternehmen gelebt wird. Eine starke Haltung ermöglicht den Menschen, sich mit den Werten einer Marke zu identifizieren und nicht nur mit einem Produkt. Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, die Marken zu stärken, sie anfassbar und positiv erlebbar zu machen. Das wird auch nach der Krise nicht vergessen.
Kann man die fröhlichen Imagespots mit der Familie am Frühstückstisch oder im Urlaub noch guten Gewissens weiterlaufen lassen?
Schwarz: Da ist sehr viel Feingefühl gefragt, gerade was die Umfelder angeht. Keiner möchte seine Marke zwischen Kriegsbildern sehen. TV bietet hier eine extrem hohe Sicherheit, weil die Platzierung gut steuerbar ist. Bei Social Media ist das nicht so einfach. Grundsätzlich kann man den Menschen nicht verdenken, dass sie auch lachende Gesichter im Fernsehen sehen wollen. TV bedient die Sehnsucht nach Entspannung, Normalität, Verlässlichkeit und Ritualen. Das erklärt auch die Retrowelle, die wir gerade erleben mit Kultformaten wie „TV total“, „Der Preis ist heiß“ und „Wetten, dass…?“.
Viele wünschen sich die „guten alten Zeiten“ zurück, weil sie damit positive Gefühle verbinden. Für tradierte Marken, aber auch für Newcomer ergeben sich daraus neue Chancen.
Wie haben sich die Anforderungen an die Seven.One AdFactory verändert?
Schwarz: Agilität, Schnelligkeit und Kreativität sind gefragter denn je. Früher haben wir uns im Herbst einen Spot ausgedacht, im Winter in Südafrika gedreht und im Frühling die Kampagne gestartet. Solche Vorläufe gibt es heute nicht mehr. Die Prozesse haben sich massiv verändert, sind schneller und direkter geworden. Aus dieser Entwicklung heraus haben wir Anfang des Jahres das Creative House gegründet.
Die Full-Service-Agentur ist in einer schwierigen Zeit gestartet. Wie sind die ersten Monate gelaufen?
Schwarz: Sehr gut, der Markt schätzt die schnelle und einfache Umsetzung, die Nähe zum Content, den Sendern, der Produktion und der Redaktion. Wir machen alles im Haus und stellen eine Rechnung. Dennoch arbeiten wir formatübergreifend und plattformunabhängig, unsere Spots laufen auch bei RTL. Es ist uns gelungen, uns glaubhaft eigenständig zu positionieren und wir merken jetzt schon, dass die Kundinnen und Kunden bei uns zu „Wiederholungstätern“ werden.
Werden sich die Prozesse im Marketing langfristig verändern?
Schwarz: Auf jeden Fall. Die Menschen wollen wissen, für welche Werte eine Marke steht, und richten ihr Konsumverhalten danach aus. Das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Die Inhalte werden an die höheren Ansprüche angepasst und die Prozesse beschleunigt. Von allen Marktpartnern wird eine enorme Flexibilität erwartet. Das bedeutet auch, dass weniger getestet und mehr aus dem Bauch heraus entschieden wird. Das Bauchgefühl ist der beste KPI. Man muss nur den Mut haben, sich wieder öfter darauf zu verlassen.
Interview: Cathrin Hegner